Tino Seghal, Palais de Tokio

Tino Seghal, Palais de Tokio

Glück, Moderne Kunst, Vision

 

 

Die erste Station meiner Kunst-Tour durch Paris führte mich direkt in die Ausstellung der Künstlers Tino Seghal im Palais de Tokio. Ein paar Wochen zuvor hatte das Süddeutsche Zeitung Magazin über diesen Künstler berichtet und von einer Ausstellung erzählt in der keine Exponate zu sehen sind; eingeübte Texte werden von Mitarbeitern des Künstlers vorgetragen. Tino Seghal nennt sie Interpreten; sie präsentieren die Texte und Choreographien während Ausstellung. Es gibt keine Filmaufnahmen und keine „Werke“ dieser Happenings. Das Guggenheim Museum in New York erwarb ein Werk von Tino Seghal – jedoch ohne tatsächlichen Beweis dafür… skuril! Das musste ich sehen und buchte genau deswegen meine Reise.

Beim Eintreten in die Lobby sah ich zuerst einen riesigen, die Halle durchtrennenden Vorhang aus durchsichtigen Perlen und bunte Punkte an der Decke. Ein fröhlicher Anfang! Besucher gingen hinein und hinaus, alles sehr luftig. Ich hatte mich auf eine ruhige, leichte Veranstaltung gefreut und wurde direkt hinter dem Vorhang von einem 10-jährigen Jungen angesprochen. Da er Französisch mit mir sprach bat ich ihn Englisch mit mir zu sprechen. Das funktionierte gut. Er stellte mir eine Frage zu „progress“ (Fortschritt, Entwicklung) die ich so gut als möglich, spontan mit ihm besprach. In Wirklichkeit war ich unsicher und gespannt ob der völlig neuen „Museumssituation“: Kein stilles Genießen der Werke, kein Verharren vor Skulpturen, kein Rückzug in meine eigenen Gedanken. Der Junge zog seinen Weg mit mir durch den ersten Raum der Ausstellung und begleitete mich quasi bis zur Übergabe an eine nächste Person. Das passierte ohne Aufforderung. Mir blieb keine Minute mich auf diese Situation einzustellen. Nacheinander wurde ich zum Gespräch mit verschiedenen Personen angleitet, das Wort „environment“(Umwelt, Umgebung) fiel. Interpreten begleiteten mich durch an sich leere Räume in denen sich Personen gehend unterhielten. Meine Frage war ja: Wer ist hier des Künstlers Mitarbeiter und wer ist hier Besucher? Völlig verwirrend. Soweit ich mich korrekt erinnere unterhielt sich eine Frau mit mir über gesellschaftliche Entwicklungen in Südamerika und geleitete mich ein weißes Treppenhaus hinab in eine riesige Halle. Dort flanierten vereinzelt Besucher???; in der Ferne sah und hörte ich viele Menschen in einem Rondell… tja was? Tanzen? Gehen? Sprechen? Singen? Nicht mal das war klar. Weitere Begegnungen? Ja, echte Gefühle bei der Erzählung einer jungen Frau, direkt und nur an mich gerichtet, die mir von ihrer Mutter, ihrer Heimat in Asien, einer schweren Kindheit mit vielen Geschwistern und ihrer Scham erzählte, der Mutter nicht wirklich helfen zu können. Die Interpreten tanzten, rezitierten Texte in mir unbekannten Sprachen, begleiteten einzelne Besucher. Wir saßen auf dem Boden oder gingen umher, wir schauten, staunten, wir hörten und waren selbst ein Teil dieser Menschengruppe. Es gab keinen Anfang und kein Ende der Aufführung – nur leise und laute Abschitte.

Irgendwann, ich nahm an, dass das Ende der Ausstellung erreicht war – eine Treppe führte nach oben, ich zog mich auf die Empore zurück. Aus dieser „sicheren“ Position heraus wurde ich zur Zuschauerin.

Mein Fazit, nachdem ich mir „environment“ endlich mit „Lebensumstände“ erklärt hatte:
Dies war eine Übung spontaner Begegnungen mit mir fremden Personen und ihren Geschichten, Meinungen, Aussagen. „Öffne dich, spreche/diskutiere, lass dich treiben (wie in einem Boot?) und versuche dich vertrauensvoll von anderen führen zu lassen.“
Sollten wir Besucher hier womöglich ein Gefühl, das Flüchtlinge weltweit befällt, das Ausgeliefertsein nachempfinden? Das sich Hingeben an andere Personen deren Gesänge man nicht versteht und deren Auftrag man nicht kennt?
Wohin gehen wir zusammen? Welcher Raum folgt als nächstes? Wo ist hier das Ende? Kann ich mich irgendwo hinsetzen? Wie lange dauert das noch?

Unfassbar, neu, spannend und ein berührendes Werk. Plötzlich als Flüchtling gestrandet zu sein. Oder, in mitten vieler Menschen nur ganz vereinzelt Lichtblicke eines Erkennes, in Form von gleichen Schritten, einem Fast-Lächeln oder offenen Gesten zu erleben.
Tage später wurde mir klar dass ich an diesem Ort soviel mehr hätte erleben und erfahren können wenn ich mutiger und offener gewesen wäre. Selbst ich neugierige Person suchte einen sicheren Platz um das Geschehen aus einem mir komfortablen Abstand zu bestaunen.